12.02.2016 Die kluge Else
Mit dem sich nähernden Frühjahr sehe ich immer wieder Elstern in den noch unbelaubten Kronen der Linden, welche die am Höfchen vorbeiführende Straße säumen. Ich betrachte sie - und denke an Else!
Vielleicht war sie ursprünglich als verwaistes Findelkind in menschliche Obhut geraten. - Jedenfalls war sie offenbar an Menschen gewöhnt, denn sie zeigte keinerlei Furcht vor ihnen. Wie sonst ist es zu erklären, dass sich Else, wie sie später heißen sollte, eines Tages, von irgendwoher kommend, plötzlich auf dem Kopf meines Nachbarn Hans niederließ und auch nicht bereit war, diesen freiwillig zu verlassen. Meine Nachbarn brachte das in eine missliche Lage, denn sie führen eine Hundepension und waren mit diesem gefiederten Gast überfordert.
Elstern waren mir bis dahin vornehmlich als Nesträuber bekannt, denen Jahr für Jahr zahlreiche Jungvögel zum Opfer fallen. Mir taten, wenn ich darüber las oder Dokumentationen sah, stets die wehrlosen Jungvögel leid. Dabei gehören sie doch einfach nur in das Nahrungsspektrum dieser relativ großen, schwarzweißen Rabenvögel, genauso wie Schwein, Schaf, Rind oder Geflügel in das unsere gehören.
Doch zurück zu jenem Tag, als ich Else zum ersten Mal begegnete: Das Telefon klingelte, es war meine Nachbarin: Du, Hans steht vor der Haustür - mit einer Elster auf dem Kopf, wohl ein zahmer Jungvogel. Ich weiß gar nicht, was ich jetzt machen soll. Wir haben doch all die Hunde. Wir können eine junge Elster unmöglich bei uns aufnehmen. Kannst du nicht ...? - Ich konnte. Hans brachte sie in meinen geräumigen Werkzeugschuppen, wo ich das Tier zunächst einmal unterbringen wollte. Ich machte mich im Internet kundig, was ich ihr zu fressen hinstellen sollte und versorgte sie auch mit frischem Wasser. Als ich am nächsten Morgen die Schuppentür öffnete, um nachzusehen, ob Else das Futter angenommen hatte, saß der flinke Vogel im Nu oben auf der Türkante und wenig später auf einer der großen Linden unweit meines Hauses. - Gefressen hatte sie auch.
Von nun an hielt sich der junge Rabenvogel mit dem glänzenden, prachtvollen Gefieder stets in der näheren Umgebung auf und nahm regelmäßig morgens von dem Futter, das ich auf der Fensterbank bereitgestellt hatte, - zwei Wochen lang. Dann tauchte Else eines Morgens nicht mehr auf. Alles Rufen und Ausschauhalten war vergebens. Den ganzen Tag lang blieb sie verschwunden. - Als ich am Abend von einem Einkauf zurückkehrte, saß auf meiner Schwelle etwas, das ich zunächst nicht ausmachen konnte. Dann erkannte ich sie: Else. Mit ausgebreiteten Flügeln kauerte sie auf der Fußmatte, - ein Bild des Jammers! Mir war gar nicht wohl, als ich den Vogel vorsichtig hochnahm, und schnell wurde mir klar, was geschehen war. Das rechte Beinchen war gebrochen, baumelte hin und her. Schnell bereitete ich in einem passenden Karton ein Nest vor, setzte Else hinein, und stellte sie an einen dunklen, ruhigen Ort. Am folgenden Tag rief ich einen Tierarzt an, von dem ich wusste, dass er sich mit Wildvögeln gut auskannte. Ich könne Else bringen, tröstete er mich. Er werde sie sich ansehen und gegebenenfall das Bein schienen. - Gesagt, getan. Der Arzt hatte mir noch mitgeteilt, die Praxis verfüge über eine Auffangstation für verletzte Wildvögel. So fuhr ich beruhigt von der Praxis nach Hause, nachdem mir versichert worden war, der Bruch könne geschient werden. Ich ging davon aus, dass Else einige Zeit unter ärztlicher Aufsicht bleiben würde.
Doch es kam anders. - Mittags klingelte das Telefon. "Sie können Ihre Elster jetzt abholen. Es hat alles sehr gut geklappt." Verdutzt machte mich auf den Weg. Der Vogel sah schon wieder fast gesund aus - und irgendwie lustig mit dem rot bandagierten Bein. - Was nun folgte, war das ungewöhnliche Zusammenleben von Mensch und Elster in der großen und hohen Küche meines alten Heuerhauses.
Es war August. Die Sommerferien hatten begomnnen. Meine Enkelkinder Katharina und Alexander kamen jeden Morgen, um tagsüber auf dem Höfchen zu spielen, bevor ihr Vater sie am Abend nach Hause holte.
Als Else Einzug in unsere Wohnküche hielt, hatte ich alle mir verfügbaren Körbe mit Bügel an verschiedenen Orten in der Küche aufgestellt und sie, in dem Wissen, dass Vögel vornehmlich da etwas "fallen lassen", wo sie gerade sitzen, mit Küchenpapier ausgelegt,wobei ich hoffte, die Küche auf diese Weise leichter sauber halten zu können. Auch Sagrotan stand schon bereit! Tatsächlich ging kaum einmal etwas daneben. Else hatte schnell gelernt, einbeinig zu landen, zu stehen und zu sitzen und nahm die Körbe bereitwillig an. Nachdem sie sich in den ersten Tagen nach dem Schienen noch eher ruhig verhielt - wahrscheinlich aufgrund ihrer Schmerzen - wurde sie später zunehmend unternehmungslustig, saß nicht nur auf den Bügeln "ihrer" Körbe, sondern sehr gern auch auf einem der freigelegten Eichenbalken im oberen Bereich des Raumes. Dort flog sie postwendend hin, wenn sie hörte, dass sich jemand, vom Hausflur kommend, der Küchentür näherte. Mit vorgestrecktem Hals saß sie dann lauernd auf ihrem Ausguck, die Küchentür fest im Blick. Trat jemand ein, flog sie blitzschnell los, um wenige Sekunden später auf dem Kopf des Eingetretenen zu landen. Ich hatte daher meinen Engelkindern angeraten, die Küche nie ohne Hut oder Kappe auf dem Kopf zu betreten, was sie sehr schnell ganz automatisch befolgten, denn Krähenfüße auf dem Kopf sind nicht nur ungewöhnlich, sondern auch unangenehm, selbst wenn sie keine Wunden hinterlassen. Deshalb wurden auch andere Besucher, so sie denn genügend Mut aufbrachten, sich die in die "Höhle des Löwen" (Verzeihung: - der Elster) zu wagen, auf Wunsch mit geeigneten Kopfbedeckungen ausgestattet. Fahrradhelme waren besonders beliebt, hatte Else doch sehr schnell erkannt, dass diese für die Landung auf einem Bein eher ungünstig, da zu rutschig waren. Sie wählte dann blitzschnell ein anderes Ziel für die Landung aus.
Wenn der Frühstückstisch vorbereitet war, deckte ich alles Essbare mit Geschirr- und Küchentüchern ab, denn Elses Nahrungsspektrum erwies sich als sehr breit gefächert. Sie liebte fast alle Bestandteile von Müslis, nahm gern einmal vom Käse oder von der Wurst (wenn ich ihr ausnahmsweise ein Stückchen davon anbot), hätte sicher auch von der Milch oder dem Kakao probiert, hätte man sie denn gelassen. - Katharina und Alexander machte Die Anwesenheit der Elster nichts aus. Ganz im Gegenteil! - Sie fanden es spannend und lustig, wenn unser Untermieter beim Frühstück eifrig mitmischte. Außerdem ließ ich die Kinder nie mit Else allein, zumal ich angesichts ihres kräftigen Schnabels nie hundertprozentig sicher sein konnte, dass sie vielleicht nicht doch im Falle einer gefühlten Bedrohung einmal zuhacken würde, auch wenn sie noch niemals auch nur ansatzweise derartige Absichten angedeutet hatte. Elstern sind und bleiben Wildtiere!
Nach vier Wochen wurde Else die Schiene abgenommen. Der Bruch war gut verheilt, auch wenn man einen leichten Knick im betroffenen Beinchen erkennen konnte. Noch weitere zwei Wochen wohnte sie bei uns. In der Zwischenzeit bauten mein Partner und ich ihr eine geräumige Voliere, denn ich wollte sie nur ganz langsam an das Leben in Freiheit gewöhnen. - Nach nur drei Tagen hatte Else jedoch ein Schlupfloch gefunden - oder gefertigt: Sie war verschwunden, tauchte auch nicht, wie vor ihrem Unfall, auf der Fensterbank auf, um das nach wie vor bereitgestellte Futter abzuholen. Ich war traurig, hoffte aber, das liebgewonnene Tier werde das Leben in Freiheit irgendwie meistern und sich seinen Artgenossen anschließen, vielleicht einen Partner oder eine Partnerin finden.
Fünf Tage nach ihrem Verschwinden sollte ich Else noch einmal sehen. Wir saßen gerade zusammen mit einem guten Freund draußen in der Sonne, als ich hoch oben auf dem Dachfirst eine Elster sitzen sah. "Das ist Else!" rief ich aus, hatte ich doch die leichte Fehlstellung des rechten Beinchens bemerkt. Die anderen wollten mir nicht glauben. Doch als ich ihren Namen rief, segelte der schmerzlich vermisste Vogel zu uns herunter und landete auf meiner Schulter. Sie vergnügte sich anschließend in unserer Nähe, kletterte auf unseren Füßen herum, zog unserem Besucher gar die Schnürsenkel auf! Etwa eine halbe Stunde lang leistete Else uns Gesellschaft. Dann zog es sie wieder fort - dieses Mal endgültig.
Ein paar Tage später, als ich die Tür eines weniger häufig benutzten Küchenschrankes öffnete, fiel mir eine schon fast mumifizierte Babymaus entgegen. - Else musste sie dort versteckt haben, wohl zu einem Zeitpunkt, als sie so satt gefressen war, dass sie selbst ihre Lieblingsspeise nicht mehr gleich verzehren konnte: eingefrorene, noch nackte Mausebabies aus der Tierhandlung, die ich ihr manchmel als höchst willkommene Abwechslung auf ihrer Speisekarte anbot. Diese Art von Vorratshaltung praktizierte sie gelegentlich, holte aber die Leckerbissen selbst wieder aus den jeweiligen Verstecken hervor, wenn sie hungrig war - oder Lust darauf verspürte. - Dieses Mal, zugegebenermaßen, ein leicht makabrer Abschiedsgruß für mich!
Else hat mein Leben bereichert und mir so manchen Einblick in die Verhaltensweisen dieser eindrucksvollen Vögel ermöglicht. - Ich werde sie nie vergessen. - Noch heute rufe ich manchmal ihren Namen, wenn in einer der zahlreichen Baumkronen in Höfchennähe eine Elster sitzt. Ab und zu bekomme ich Antwort in der typisch krächzenden Elsternsprache. Dann bilde ich mir ein, es ist Else, die sich an mich erinnert - und fühle mich richtig gut!
Bleiben Sie mir treu.